Von Schdaddmussikaande und Stadtmusikanten
Geschichtsverein veröffentlicht hessische Mundartmärchen und wahre Geschichten im Original und als übersetzte Fassung
Es war und ist immer wieder… mittwochs Märchentag im oberhessisch-hochdeutsch-englischen Blog Owenglie. Dann geht eine Hördatei mit einem Märchen und Musik online, gut zehn Minuten im Dialekt mit Vokabeln und Hintergrundinformationen. Wegen der Nachfrage nach den Manuskripten sind die Erzählungen jetzt in zwei Taschenbüchern nachzulesen, und zwar sowohl im oberhessischen Original als auch in der hochdeutschen Übersetzung. Der gemeinnützige Geschichts- und Kulturverein Lastoria, Bremen, hat auf jeweils 248 Seiten mehrere Dutzend Märchen und wahre Geschichten veröffentlicht, die seit 2023 auf der Website der Historikerin und Journalistin Monika Felsing zu hören sind: “Es woar èmo” und “Es war einmal”.
„Es war einmal eine Mundart, die war in Oberhessen deheem“, beginnt der Klappentext der Mundartfassung. „Irgendwann aber hörten die Leute auf, die Untertasse Bleedche und die Hakenleiste Krabbeläisd zu nennen. Immer weniger Eltern erzählten Kindern Geschichten, in denen ein Ruudkäbbche oder sewwe Roawe vorkamen.“ Beim Schreiben hat sich die Autorin diesmal von den Grimms und Andersen inspirieren lassen, aber auch vom Oral-History-Projekt des Vereins, das 2020 mit der Auszeichnung „Vogelsberg Original“ bedacht worden ist, von aktuellen Ereignissen und Biografien. Die erwachsenen-, jugend- und kindgerechten Geschichten enthalten Anregungen zum Dialektlernen und viel Wissenswertes über Hessen, mal überwiegt der Ernst, häufig aber der Humor. Für Monika Felsing, die umfangreich recherchiert und bereits zahlreiche Sachbücher und Mundartlieder veröffentlicht hat, war es eine Abwechslung: „Ich durfte meiner Fantasie freien Lauf lassen, auch musikalisch. On doas hodd Schbass gemoachd!“ Das gilt besonders für die Zusammenarbeit im durchweg ehrenamtlichen Team: für die Buchgestaltung von Wolfgang Rulfs, Delmenhorst, die Mundartkorrekturen von Sabine Kirchner, Ober-Gleen, und die hochdeutschen von Justus Randt und Regina Dietzold, Bremen.
Geschrieben hat die in Bremen lebende Bloggerin die Urfassungen im Owengliejer Pladd, der Mundart ihres Heimatdorfes Ober-Gleen. Aber auch die hochdeutsche Übersetzung führt die Leserinnen und Leser quer durch den Vogelsberg und über Mittelhessen hinaus. Erwähnt werden unter anderem Ober-Gleen, Kirtorf, Arnshain, Wahlen, Maulbach, Appenrod, Dannenrod, Angenrod, Alsfeld, Lauterbach, Marburg, Gießen, Wetzlar, der Ebsdorfer Grund, Melsungen, Freienseen, Niederklein, Kassel, Rainrod, Wallenrod, Frankfurt am Main, Gladenbach, Diez an der Lahn und Darmstadt. „Manche Orte, die ich nenne, haben einen direkten Bezug zur Handlung, andere nicht“, schreibt die Autorin. „Ob sich jemand auf eine Geschichte einlässt, hängt ja nicht allein davon ab, wo sie spielt, aber es kann ein Anreiz sein.“ Nicht zu vergessen: In vielen Teilen Hessens werde intensiv mit Märchen geworben. „Sie sind in vielen Ländern der Welt ein wichtiges Stück der Erzählkultur, nicht zuletzt, weil sie Generationen verbinden. Und in hessischer Mundart werden selbst moderne Märchen urhessisch.“
Einzelne Geschichten sind Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus den Projekten des Vereins gewidmet oder Menschen wie Kapitän Edmund Badenhausen aus Melsungen, Schmetterlingsfachmann Alfred Westenberger aus dem Taunus, Elsa Eislöffel aus Offenbach („Doas oarme Keand“/“Das arme Kind“), der Enkelin eines Ober-Gleeners, die in Hadamar ermordet wurde, oder der Familie Roth aus Lauterbach („Ruuds Käddche on die Welf“/“Käthe Roth und die Wölfe“), die jüdischen Freunden und Bekannten in der Nazizeit geholfen hat. Das Märchen von einer, die sich fürchtete, dass das Wissen ausgehen könnte („Voo enner, die sech fiachde deed, desses Weasse ausgieh kennd“), ist zum 50. Geburtstag der Volkshochschule Vogelsberg entstanden. Auch die verhinderte Verkehrswende, die Natur, kulinarische Spezialitäten, traditionsreiche Berufe und Ortsuznamen, Krieg und Frieden, Liebe und Lügen, die Armut und die Sozialrevolution des 19. Jahrhunderts, Auswanderung und Einwanderung finden sich in den Märchen wieder. Und natürlich dürfen weder die Bremer Schdaddmussikaande noch die Bremer Stadtmusikanten fehlen.
Bebildert ist der Mundartband mit Privatfotos der Autorin, einem Porträt von Elfriede Roth aus Lauterbach und einem Foto von Elsa Eislöffel aus dem Archiv der Nieder-Ramstädter Diakonie. In der übersetzten Ausgabe sind sechs der nach der letzten Ausstellung in Oberhessen verschollenen Gemälde des aus Ober-Gleen stammenden Künstlers Bernhard Wald alias Faldon veröffentlicht. „Es wäre ein kleines Wunder, wenn sie nach all den Jahren wieder auftauchten“, räumt Monika Felsing ein. „Aber immerhin leben Märchen davon, dass Menschen trotz allem an das Gute glauben und gerade in unwahrscheinlichen Fällen auf ein glückliches Ende hoffen.“ Das gilt nicht zuletzt auch für den Dialekt, weshalb der Klappentext des Originals mit den Worten endet: „Und wenn die Mundart noch nicht ausgestorben ist, dann lebt sie vielleicht auch noch morgen.“
Einen ehrenamtlichen Beitrag zum Erhalt des oberhessischen Dialektes und der Erzählkultur leistet der Geschichtsverein Lastoria seit 2012 mit Recherchen, Tonaufnahmen, Büchern, Online-Veröffentlichungen, vielfältigen Kooperationen und interaktiven Veranstaltungen. Mittwochs ist weiterhin Märchentag im Blog auf www.monikafelsing.de mit neuen Geschichten off Pladd, die alle mit „Es woar èmo“ anfangen.
Kurzinfo:
Monika Felsing, „Es woar èmo, Oberhessische Mundartmärchen und wahre Geschichten“, 248 Seiten, 16 Euro, ISBN-13: 9783759713605, veröffentlicht bei Books on Demand (BoD) in Norderstedt, mit QR-Codes der Mundartaudios. „Es war einmal. Hessische Märchen und wahre Geschichten“, 248 Seiten, 16 Euro, ISBN-13: 9783759713490, veröffentlicht bei BoD, mit QR-Codes der Mundartaudios. Erhältlich sind die Bücher im örtlichen Buchhandel und beim Verlag. Die Honorare gehen an den Geschichts- und Kulturverein Lastoria, Bremen. Zu hören sind die gedruckten und weitere Märchen im Blog auf www.monikafelsing.de.
18. Juni 2024